Hilflosigkeit trifft auf Ordnungsliebe

Bericht aus der PNP vom 09.07.2022 von Gesine Hirtler-Rieger

Vilshofen. An den abgewetzten Koffer erinnert sich Heike Dreyer noch sehr gut. Voll bis zum Rand mit Dokumenten, die ihr entgegen flatterten, als der geflüchtete Syrer diesen öffnete. Zwei Vormittage verbrachten sie damit, die Dokumente zu sichten, zu sortieren und in sechs Ordnern abzuheften.

Bei Elmira Mallaalieva ist das einfacher. Die junge Frau, die Ende März aus Kramatorsk/Donezk im Osten der Ukraine geflüchtet ist, legt gerade einen kleinen Stapel Dokumente auf den Tisch. Dieser dient in Elmiras winziger Einzimmerwohnung in Vilshofen als Bürotisch, Ablage und Essplatz zugleich. Aufmerksam mustert Heike Dreyer das Häuflein Papier: „Zwei Schnellhefter voll, nicht viel“, sagt sie. Dann stellt sie ihr mobiles Büro daneben. Leere Aktenordner, Folien und Register sowie Schere, Klebestift, Tacker und Büroklammern befinden sich in der Kunststoffbox. Alles übersichtlich angeordnet.

Los geht’s mit dem wichtigsten: Steuer-ID, Ausweispapiere, Anmeldung bei der Stadt Vilshofen. Alles wird gewissenhaft sortiert, Originale kommen in die Klarsichthülle – „Auf keinen Fall lochen!“ – einzelne Seiten werden zusammengeheftet. „Und das aktuelle kommt immer oben drauf“, erklärt Heike Dreyer auf Englisch. Elmira nickt. Eigentlich selbstverständlich, oder?

Nein! Nicht einmal für Deutsche. Auch in hiesigen Haushalten gibt es genug fliegende Blätter, die in irgendwelchen Stößen verschwinden. Doch wer auf der Flucht ist, hier ein Papier und da eine Meldebestätigung bekommt und dies womöglich nicht einmal lesen kann, für den werden die Blätter zum bedrohlichen Wust, irgendwo hinein gestopft, fertig. Für Dreyer, die Ordnung liebt, gibt es also viel zu tun.

Ordnung halten. Das klingt nach einer angestaubten Tugend und wirkt ganz schön spießig. Im Gegenteil, meint die Vilshofenerin: „Sich organisieren heißt, Zeit sparen und das Leben vereinfachen.“ Die gelernte Betriebswirtin, die als Technische Redakteurin in einer Firma für Sensortechnik arbeitet und dort Betriebsanleitungen schreibt, Leitfäden und Montageanleitungen entwirft, ging die Dinge schon als Kind sehr gründlich an. Damals recherchierte sie für eine Abhandlung über die Indianer Nordamerikas und ackerte sich dafür gewissenhaft durch rund 250 Bücher.

Eines weiß Heike Dryer gewiss: Strukturen erleichtern das Leben. „Je strukturierter wir arbeiten, umso einfacher werden die Abläufe“, sagt sie überzeugt. Beruflich arbeitet sie im Team und hat begonnen, Textbausteine zu sammeln und zu systematisieren. So muss sie später nicht in fünf Ordnern nachschauen, sondern kann die vorbereiteten Dinge flink zusammensetzen.

Auch Elmiras Leben wird gerade systematisiert. Die Register werden säuberlich mit bereits vorgedruckten Titeln beschriftet. Jetzt sind die Papiere vom Bundesamt für Migration an der Reihe. Elmira sucht im Stapel, blättert hier, zupft da, und zieht dann einzelne Dokumente heraus. Heike sichtet sie, locht und heftet ein. In Zukunft wird Elmira dies selbst erledigen, das ist das Ziel: Hilfe zur Selbsthilfe.

Das hatte Heike Dreyer auch vor Augen, als sie 2015 die Flüchtlingshilfe in Ortenburg vorantrieb und das dortige Kultur- und Integrationscafé „KiM fei“ leitete. 20 Wohnungen für Flüchtlinge hat Heike Dreyer im Lauf der Jahre organisiert, eingerichtet, Umzüge begleitet – alles ehrenamtlich. Seit 2018 ist die gebürtige Münchnerin im Café Welcome und beim Arbeitskreis Vilshofener Asylbewerber aktiv.

Das Ordner-Projekt liegt ihr sehr am Herzen. Das heißt nicht, dass sie selbst im Bürograu verschwindet. Das rosarote T-Shirt, ihre geblümten Hosen und die verspielten modischen Ohrringe, die sie selbst gefertigt hat, erzählen von den kreativen Seiten ihres Lebens. In ihrer Wohnung umgibt sie sich gerne mit Blumen, farbiger Deko und floraler Kunst: „Das ist mein Gegenpol.“

Zwei Stunden später herrscht Ordnung in Elmiras Papieren. 18 Register wurden angelegt, jetzt können auch die Helfer, vor allem aber Elmira schnell auf notwendige Informationen zugreifen. Heike Dreyer packt zufrieden ihr mobiles Büro wieder zusammen, und Elmira lächelt ein ganz klein wenig. Ordnung muss nicht gleich das halbe Leben sein. Aber Halt in unsicheren Zeiten bietet sie allemal.