Bericht aus der PNP vom 03.11.2022 von Gesine Hirtler-Rieger
Sandbach. Kinderlachen dringt aus der großen Gaststube. Hier, im Herzstück des ehemaligen Gasthofs Michael Kuffner, wird gerade Fangen gespielt. Nebenan in der Küche sitzen Frauen beim Tee, auf dem Herd brodelt eine Suppe. Männer sind nicht zu sehen, sie werden an der ukrainischen Front gebraucht. Nur Nikita, der im Sommer 18 wurde, hat es nach Sandbach geschafft.
Für Frauen und Kinder, die vom Angriffskrieg Putins aus ihrer ukrainischen Heimat vertrieben wurden, hat Stephan Wimmer das Haus am Ortseingang zur Verfügung gestellt. Jahrzehntelang wurden hier Besucher bewirtet. Als der Besitzer starb, versank das Gebäude im Dornröschenschlaf. Nun herrscht wieder Leben, abends sind alle Fenster hell erleuchtet.
40 Menschen wohnen hier, dürfen bleiben solange sie wollen, sagt Stephan Wimmer. Die ersten kamen Mitte März, manche haben bereits Arbeit gefunden und sind wieder ausgezogen. Doch die deutsche Sprache ist eine gewaltige Barriere, die nicht leicht zu überwinden ist.
Nataliia Antonenko (47) kam mit ihrem Sohn Andrij (8) im März nach Sandbach. Doch auf der Flucht ist sie eigentlich seit 2014. Ihr Sohn war noch ein Baby, als die Gefechte in der Ostukraine sie zwangen, in die Nähe von Kiew zu fliehen. Als dort dann die ersten Bomben einschlugen, wusste sie, dass sie wieder flüchten muss. „Ich bin so dankbar, wie herzlich wir hier aufgenommen wurden“, sagt sie in gutem Englisch und lächelt Wimmer zu.
Viele freiwillige Helfer haben sich zu Beginn gefunden, manche haben sich wieder zurückgezogen. Christina und Josef Eder sind geblieben. Mindestens einmal in der Woche fahren sie von Ruhstorf hierher mit Betten und Schränken im Anhänger, die sie irgendwo ergattert haben und geduldig aufbauen. Obwohl nicht mehr die Jüngsten, sind sie unermüdlich am Werken: „Wir spielen Möbel-Mikado“, sagt Christina augenzwinkernd.
Gerade kommen zwei junge Frauen herein, die Christina fest umarmen. Vita und Yana, beide Ende 20, sind im Mai aus Kiew geflohen. Damals konnten sie kein Wort Deutsch, doch dank des Sprachkurses, den der Arbeitskreis Vilshofener Asylbewerber (AVA) gleich zu Beginn auf die Beine stellte, haben sie große Fortschritte gemacht.
Die Gemeinschaft aus 40 unfreiwillig zusammengewürfelten Frauen und ihren Kindern funktioniert erstaunlich gut. Der Start war holprig, sagt Stephan Wimmer, denn die Zimmer waren marode, Heizung und Warmwasser mussten in Schwung gebracht werden. Und es gab natürlich Spannungen zwischen den Bewohnerinnen, die sich zwei Kochherde und zwei Waschmaschinen teilen müssen. Eine einzige Person kann enorm Unruhe stiften – auch diese Erfahrung machte die Hausgemeinschaft. Protzige Autos mit verdächtig wirkenden Männern, die mehrmals auftauchten und energisch vertrieben werden mussten, ängstigten die Frauen zudem. Doch mittlerweile sind sie auf der Hut und schlagen sofort Alarm.
Es ist den vielen Ehrenamtlichen vom AVA, etlichen Sandbachern und nicht zuletzt den Ukrainerinnen selbst zu verdanken, dass die Stimmung im Moment so gut ist, sagt Wimmer. Yana, Vita und Nataliia unterstützen ihn nach Kräften, nehmen neu Ankommende in Empfang, helfen ihnen, sich im bürokratischen Dschungel zurecht zu finden.
Abends sitzen sie oft in der Küche, tauschen Nachrichten aus der Heimat aus und spenden sich gegenseitig Trost. Die Gedanken kreisen um die alten Eltern oder den Ehemann und Vater, deren Leben in der Heimat gefährdet ist. Auch Ratschläge machen die Runde: Wo gibt es einen Arzt und wie kommt man dahin? Im Sommer konnten die Frauen sich auf gespendete Fahrräder schwingen, um nach Vilshofen zu gelangen, doch der Winter naht. Es wäre wirklich ein Segen, meint Wimmer, wenn die Busse öfter fahren würden.
Mit Wohlwollen begegnen auch die Sandbacher den Frauen und Kindern. Die anfängliche Skepsis hat sich gelegt, und dank der Übersetzungs-App auf dem Handy gelingt sogar ein kleines Schwätzchen. Es reicht ein Lächeln, sagt Yana, und das Leben ist gleich leichter: „Wenn die Menschen uns auf der Straße grüßen, tut das einfach gut.“